Konstruktion von Leichtwinddrachen (LWD)

Ziel unserer Überlegungen soll ein Drachen sein, der bei möglichst wenig Wind einen möglichst hohen Steigwinkel erzielt.
Bevor wir in Konstruktionsdetails einsteigen, müssen wir vorher leider noch etwas Formelkram erledigen, um ein paar Richtgrößen für die Konstruktion zu erlangen.

Formel für Auftrieb: (Formel 1)

L = ½ * Lc * r * A * v²

mit
L= Auftrieb (N)
Lc = Auftriebskoeffizient (dimensionslos) » 0.6
r = Luftdichte (kg/m³) » 1.3 kg/m³
A = für den Auftrieb wirksame Fläche des Drachens (m²)
v = Windgeschwindigkeit (m/s)

Lc ist ein Mittelwert und hängt von der speziellen Drachenkonstruktion und der Waageeinstellung ab. Daher sind alle nachher ermittelten Werte in der Praxis nur als ungefähre Anhaltsgrößen zu bewerten. Die unterschiedlichen Auftriebskoeffizienten sind zum Beispiel an der Steigleistungen verschiedener Drachentypen zu erkennen. Ein Delta-Drachen hat einen höheren Auftriebskoeffizienten als ein Kastendrachen.
Wir sehen hier, daß in (Formel 1) der Auftrieb von effektiver Drachenfläche und Windgeschwindigkeit abhängt.
Um überschlagsmäßig die nötige Mindestwindgeschwindigkeit für einen bestimmten Drachen zu ermitteln, setzen wir in die Formel für den Auftrieb das Gewicht des Drachens ein.

Das Gewicht eines Drachens errechnet sich aus (Formel 2)

w = m * g

mit
w = Gewicht des Drachens (N)
m = Masse des Drachens (kg)
g = Erdbeschleunigung (m/s²) » 9.8 m/s²


Daraus ergibt sich dann die Formel für die nötige Mindestwindgeschwindigkeit eines Drachens (Formel 3)

v = 5 * sqr(m/A) in m/s

Der Ausdruck m/A in kg/m² stellt hierbei die sogenannte Flächenbelastung dar, ein im Flugzeugbau üblicher Ausdruck, um anzugeben, wieviel Gewicht in kg 1m² Flügelfläche zu tragen hat.
Die nötige Mindestwindgeschwindigkeit ist also proportional der Masse und umgekehrt proportional der Fläche des Drachens.
Mit dieser Formel kann man jetzt ein bißchen herum spielen.
Wir wollen herausbekommen, wie schwer ein Drachen bei einer bestimmten Fläche sein darf
(Formel 4), damit er bei einer bestimmten Windgeschwindigkeit fliegt.

m = (A * v²)/25

Wir sehen, daß die Masse der Fläche proportional ist und können daher für die Fläche A = 1 m² einsetzen, um hinterher den gefundenen Wert mit jedem beliebigen Flächenfaktor zu multiplizieren zu können.
Für die Windgeschwindigkeit setzen wir ein:
1 Bft. = 1.5 m/s : das ergibt 0.09 kg.
Der gesuchte Drachen besitzt eine Flächenbelastung von 0.09 kg/m².

Fazit:
Wenn ein Drachen mit einer Fläche von 1 m² bei einer Windstärke von 1 Bft. fliegen soll, darf er also allerhöchstens 89 Gramm wiegen, damit er Auftrieb erfährt und steigen kann
.

In der Fang den Wind Nr. 31 (2/94) hat Andreas den Plan eines Genkis mit einem Maximalgewicht von 0.2 kg und einer Segelfläche von 2.75 m² veröffentlicht. Dieser Drachen besitzt demnach eine Flächenbelastung von 0.2/2.75 kg/m² bzw. 0.072 kg/m², also genug Auftrieb, um bei 1 Bft. fliegen zu können.
Setzt man die Werte in (Formel 3) ein, so kommt man auf eine Mindestwindgeschwindigkeit von 1.34 m/s.
Solch einen Drachen wird man auch bei 0 Bft. gut hochpumpen können, da das Erzeugen einer relativen Windgeschwindigkeit von 1.34 m/s durch Einholen der vorher ausgelegten Flugschnur per Hand durchaus im Bereich des Machbaren liegt.
Eine weitere wichtige Größe im Flugzeugbau ist die Gleitzahl.
Die Gleitzahl beschreibt das Verhältnis von Luftwiderstand zu Auftrieb. Ein gutes Segelflugzeug sollte zum Beispiel eine sehr geringe Gleitzahl haben. Beträgt das Verhältnis von Luftwiderstand und Auftrieb z.B. 1:50 (oder 0.02) bedeutet dies, daß der Segelflieger im Gleitflug bei 50m Flugstrecke um 1m absinken würde.

Aus der Gleitzahl läßt sich der Steigwinkel b beim Drachen berechnen (Formel 5):

tan b = 1 /Gleitzahl = Auftrieb - Drachengewicht/Luftwiderstand

Wir erkennen daraus, daß zur Erzielung eines optimalen Leichtwindverhaltens auch der Luftwiderstand des Drachens eine Rolle spielt. Ziel soll ja u.a. langsames Absinken bei Windlöchern und möglichst steile Flugschnurstellung sein.
Nachdem wir jetzt die physikalischen Zusammenhänge mathematisch kurz beleuchtet und sogar ein paar Richtwerte berechnet haben, können wir das Ganze in die Praxis umsetzen.
Zur Konstruktion eines LWDs benötigen wir also

  1. viel Fläche
  2. wenig Gewicht
  3. wenig Luftwiderstand
  4. Leider sind in der Praxis alle Punkte nicht so einfach unter einen Hut zu bringen. Würde man immer mit einer gleichbleibenden Windgeschwindigkeit rechnen können, wäre alles sehr viel einfacher. So müssen wir als letzten, aber nicht unwichtigsten Punkt
  5. mechanische Stabilität

aufführen. Der Drachen muß seine vorgegebene Flugform behalten können und Teile des Drachens sollten sich nicht unkontrolliert bewegen können und damit den Luftwiderstand erhöhen.
Will man also einen wirklich reinrassigen LWD, fallen so schon mal alle Drachen mit Schwänzen und Flatterkanten aus den Überlegungen heraus.

Viel Fläche
Dies ist der Punkt, der eigentlich am einfachsten zu erfüllen ist. Von ein paar Konstruktionen (Parafoils u.ä.) mal abgesehen, läßt sich fast jeder Drachen problemlos maßstabsgerecht "aufblasen" und natürlich auch ebenso schrumpfen.
Natürlich gibt es immer eine Grenze, wo die erforderliche mechanische Stabilität Maßnahmen bedingt, die den Flächengewinn durch erhöhtes Gewicht wieder zunichte macht.
Auch ist nicht die absolute Fläche wichtig, sondern in erster Linie die Fläche, die vom Wind an der Leitkante angeströmt wird.
Daher ist beim LWD ein hohes Streckungsverhältnis (aspect ratio = Verhältnis von Spannweite zu Länge) Pflicht. Auch hier ist beim Übertreiben des Verhältnisses ab einem bestimmten Punkt mit aerodynamischen Stabilitätsproblemen zu rechnen. Diese müssen dann durch kontraproduktive Maßnahmen zur Erhöhung des Luftwiderstandes (Schwänze, Flatterkanten) behoben werden.

Wenig Gewicht
Das nächste Problem tritt auf, wenn es darum geht, bei der vergrößerten Fläche dafür zu sorgen, daß alle Teile von vornherein die vorgesehene Stellung zum Wind einnehmen und auch behalten.
Flexible Teile, die ihre endgültige Form erst durch Winddruck erhalten, sollten vermieden werden.
In der Praxis heißt dies, daß z.B. Genkis ihren Flächenwinkel durch eine feste Vorspannung erhalten, die "Flatterkanten" durch Segellatten abgespannt und Deltas durch eine längere Spreize und/oder Segellatten weniger flexibel gemacht werden. Natürlich wird dadurch, z.B. beim Delta wegen der kleineren "Kiel"-Bildung, der nutzbare Windbereich eingeschränkt.
Die Nutzung von möglichst leichten und steifen Stäben ist selbstverständlich. Auch beim Stoff gibt es mittlerweile sehr leichtes Nylon.
Ein nicht zu unterschätzendes Problem bei der Gewichtsbetrachtung ist die resultierende Lage des Massenschwerpunktes des Drachens.
Unter allen Umständen muß dieser Punkt hinter dem per Lot auf die Längsachse projizierten Anleinpunkt liegen. Ist dies nicht Fall, oder liegen die beiden Punkte zu dicht zusammen, kann durch behutsames Auffüllen des hinteren Teiles des Längsstabes oder Übermuffen der Schwerpunkt weiter nach hinten verschoben werden.
So vermeidet man einen Kopfüber-Absturz und der Drachen nimmt beim Nachlassen des Windes eine steilere Stellung ein.
Kurz gesagt, ein Drachen sollte immer wissen, wo bei ihm oben und unten ist.
Die Ermittlung des Massenschwerpunktes sollte auch kein Problem darstellen.
Kleinere Drachen werden auf dem Längststab per Zeigefinger ausgependelt. Bei größeren Drachen wird dieser zweimal hintereinander an verschiedenen Punkten aufgehängt. Da, wo sich die beiden Lote zur Erde schneiden würden, ist der Schwerpunkt.
Um auswertbare Resultate zu erzielen, sollten sich die Aufhängpunkte natürlich nicht auf der Längsachse des Drachens befinden.
Wichtig ist auch, daß, sofern möglich, die Hauptmasse in der Längsachse des Drachens konzentriert ist. Der Drachen steht ruhiger, wenn er sein Gewicht bei kleinen Windrichtungsänderungen nicht auspendeln muß. So sollten dann auch Segellatten u.ä. möglichst leicht sein.
Eine weitere Maßnahme, die aber nach meinen Beobachtungen viel zu selten angewandt wird, ist das Abfangen der Drachenkonstruktion durch weitere Waageschenkel und Abspannungen.
Mein Leichtwind-Rokkaku mit einer Segelfläche von immerhin 3.9 m² kommt dank 10-schenkliger Waage mit einem 8mm-CFK Längsstab und 6mm-CFK Spreizen aus und muß auch nicht bei 5 Bft. passen. Auch Eddys lassen sich z.B. durch eine 4-schenklige Waage und entsprechend dünneren Stäben in ihrem nutzbaren Windbereich entscheidend verbessern.
Falls aus Transportgründen gemufft werden muß (was ich soweit wie möglich bei LWDs vermeiden suche), sollten die Muffen in den Bereich geringster Durchbiegung verlegt werden. Vor allen Dingen bei Querspreizen sollte dieser Punkt beachtet werden. Soll eine Spreize für einen 3m-Genki gemufft werden, empfiehlt sich beispielsweise die Verwendung eines Mittelstücks von 2m mit zwei Außenstücken von jeweils 50cm anstatt zwei Teilstücken mit 1.5m Länge.
Das Motto lautet hier: "Solange der Stab sich noch biegen kann, kann er nicht brechen."
Für eine optimale Kraftverteilung empfiehlt sich auch die Verwendung von Taschen für Querspreizen jeglicher Art.
Beim Muffen von Längsstäben, das sich fast nie vermeiden läßt, legt man die Muffung zweckmäßigerweise soweit wie möglich nach hinten in Richtung Schleppkante.
Die Muffstelle selbst sollte als Innen- und Außenmuffe ausgeführt werden, die Innenmuffen sollten jeweils ca. 10 cm über den Bereich der Außenmuffe hinausgehen.
Als Muffenmaterial empfiehlt sich entsprechend größeres oder kleineres Stabmaterial, wobei die Außenmuffen an den Enden mit Kevlar-Schnur umwickelt und mit Epoxid-Harz versiegelt werden sollten. Solche Verbindungen, verbunden mit wirksamen Abspannungen oder Waageschenkeln, sind praktisch auch bei größeren Belastungen unzerstörbar.

Wenig Luftwiderstand
Wie schon weiter oben erwähnt, sollte auf die Verwendung von Modellen mit Schwänzen und/oder Flatterkanten grundsätzlich verzichtet werden, will man eine maximale Performance bei Leichtwind erreichen.
Manche Schwachpunkte wie Flatterstellen treten aber erst nach längerem Gebrauch zu tage.
Man untersuche mal seine Leichtwinddrachen auf typische Knitterstellen, wo die Imprägnierung des Nylons langsam abschuppt. Dies ist sogenanntes "faules Fleisch" (wenn mir dieser Vergleich gestattet ist), was meistens bedenkenlos herausgeschnitten werden kann. Man könnte diese meistens gerade geschnittene abgeflatterte Kante durch eine entsprechend konkav geschnittene Kante ersetzen.

Leichte Flugschnur
Zu Gewicht und Luftwiderstand tragen auch die verwendeten Flugschnüre bei. Viele Drachenflieger benutzen aus meines Erachtens übertriebener Vorsicht eine zu starke und damit auch zu schwere Schnur. Die auf die Flugschnur wirkenden Kräfte werden meistens überschätzt.
Möglichst leicht, dünn und steif bei ausreichender Reißfestigkeit – dies sind die Anforderungen an eine gute LWD-Flugschnur. Da fällt mir derzeit nur Kevlar ein. Es gibt zwar in Einzelaspekten bessere Schnüre, aber die werden dann schon vom Scharf-Angucken zerschnitten, d.h., diese Schnüre haben in der Regel einen sehr niedrigen Schmelzpunkt.
Kevlarleinen, besonders die sehr dünnen, werden natürlich, falls geknotet werden muß, gespleißt oder wenigstens vorher ummantelt.
Da gute LWD sehr oft fast senkrecht stehen und dann oben in der Thermik segeln, kommen dann auch schon mal Begegnungen der dritten Art mit anderen Drachen vor. Als Strippenhalter hat man dann nur noch wenig Einfluß auf die Bewegungen des Drachens.
Da ist es dann von Vorteil, wenn der Drachennachbar auch an einer Kevlarleine fliegt, soll die gute Laune auf dem Drachenfeld noch eine Weile vorhalten.

Drachentypen
Meine Favoriten bei sehr wenig Wind sind spezielle Rokkakus und Flugzeugdrachen. Letztere haben meistens ein optimales Absinkverhalten, so daß man zum Schnureinholen und Wieder-in-den-Wind-bringen genügend Zeit hat.
Sehr leichte Deltas (OKD o.ä.) oder verwandte Konstruktionen (siehe auch FdW Nr. 37) sind ebenfalls geeignet. Einige Drachenflieger schwören auf Genki oder Pearson-Roller.
Letztendlich kann man für jeden Drachen eine Leichtwind-Version bauen, vorausgesetzt, man beachtet die Grundregeln.


©1999 Thomas-Michael Rudolph